Gomperz, Heinrich: Brief an Heinrich Friedjung. Wien, 12.10.1915
Wien , den 12.10.15.
Hochverehrter Herr Doktor !
Indem ich Ihnen die ausserordentlich interessante Denkschrift zu-
rücksende, möchte ich Ihnen vor allem für die Erlaubnis,sie durchzu-
sehen, noch einmal herzlichst danken.
Was die Richtung der in ihr enthaltenen Vorschläge be-
trifft, so stimmt sie mit meinen eigenen Überzeugungen vollständig
überein. Einige Bedenken im einzelnen kann ich freilich nicht un-
terdrücken, doch erstrecken sich auch diese weniger auf die Frage,
was wünschenswert wäre , als vielmehr auf die , ob und wie man es
durchsetzen kann. So kann ich z.B.die vorgeschlagene staatsrechtli-
che Regelung der Verhältnisse von Galizien ,bzw.Polens und der Ukra-
ine, kaum für praktisch realisierbar halten, und würde auch Beden-
ken tragen, in einem so kritischen Augenblick durch die Forderung
der Durchführung des Nationalitätengesetzes die Magyaren vor den
Kopf zu stossen.
Diese verhältnismässig geringfügigen Auffassungsverschiedenhei-
ten hängen offenbar letztlich davon ab ,dass es Ihnen das wichtig-
ste schien , Ziele aufzuzeigen , während meiner Anschauung nach
die Aufgabe , auch einen Weg zur Erreichung der aufgezeigten Ziele
zu weisen,an Bedeutung jener ersteren kaum zurücksteht. Bei dem Ver-
such , zur Erreichung der ins Auge gefassten Ziele konkrete Kräfte
zusammenzufassen, heischt aber naturgemäss die alte Maxime :
IN NECESSARIIS UNITAS , IN DUBIIS LIBERTAS
erhöhte Berücksichtigung.
Von ähnlichen Erwägungen ausgehend bin ich schon vor Monaten
zu der Auffassung gelangt, dass unter Hintansetzung parteipoliti-
scher Unterschiede und programmatischer Differenzen der Versuch ge-
macht werden sollte, zur Durchsetzung dessen , was mit als der Kar-
dinalpunkt aller Zukunftsbestrebungen erscheint , d.i.die wirtschaft-