Jacobsohn, Siegfried: Brief an Karl Kraus. Charlottenburg, 11.10.1919
Die Weltbühne
Herausgeber: Siegfried Jacobsohn
Redaktion
Charlottenburg, den 11. Oktober 1919
Dernburgstrasse 25
Fernsprecher: Wilhelm1943
Lieber Herr Kraus,
haben Sie Dank für Jhr Telegramm. Aber jammerschade, daß es nicht Jhre Ankunft
in Berlin anzeigte. Jch hatte mich so gefreut. Und nicht minder schade, daß meine
Frau, die in denselben Tagen wie Sie in München war und dort in allen großen
Hotels nach Jhnen gefragt hat, Sie nicht finden konnte.
Nun schreibt mir heute Kurt Wolff, daß Sie für die Vorträge München mit
Berlin zusammelegen möchten. Er schlägt Ende November vor. Jch habe ihm soeben
mitgeteilt, weswegen ich gegen diesen Termin bin. Weder wird es möglich sein, in
so vorgerückter Saison für diese Zeit einen Saal zu kriegen, noch wird sich
überhaupt diese Zeit empfehlen. Jn Berlin sieht es ja viel ärger aus, als die
Zeitungen mitteilen dürfen und mitteilen wollen. Man schlottert überall vor
Kälte, sowohl zu Hause wie in öffentlichen Räumen - wenn ich mir nicht gestern
im Theater eine schwere Jnfluenza geholt habe, will ich dem Himmel danken -, und
ob die Heizerei, die am 15. Oktober losgehen soll, wirklich losgeht, und ob sie
dann, sechs Wochen später, noch funktioniert, ist überaus zweifelhaft. Und die
Eisenbahn! Weder werden Schnellzüge fahren, noch wird geheizt sein. Jch würde
deshalb Ende April oder Anfang Mai vorschlagen. Wenn ich dann noch lebe, bin
ich mit Freuden bereit, alles so vorzubereiten und zu arrangieren wie das vorige
Mal.
Über Jhre Bücher sage ich heute gar nichts, weder über ‚Weltgericht’,
noch über ‚Die letzten Tage der Menschheit’. Da bleibt einem, wie der Berliner
sich ausdrückt, die Spucke weg. Aber sie wird wiederkommen, und Sie werden dann
allerlei Unfreundlichkeiten in meinem Blättchen zu lesen kriegen.
Mit herzlichen Wünschen und Grüßen
Ihre Jacobsohns