Decsey, Ernst: Brief an Wilhelm Kienzl. Wien, 22.5.1928
PROF. DR. ERNST DECSEY
WIEN, I. WOLLZEILE 30
TEL. 73-3-90
Verehrter Meister !
Wenn ich durch einen Vorfall recht getroffen
bin, versagen sich mir gewöhnlich die Worte. So auch in
dem Fall,der mich seit Tagen bewegt,mehr als jeder andre
in der letzten Zeit. Jch sehe Jhren Bruder noch in strotzender
Kraft vor mir, wie er, von Freunden begleitet, redend und
stockschwingend die Grazer Strassen durchschritt. Und
dann sehe ich ihn,wie ich zuletzt vor zwei Jahren in Berlin
erblickte,noch immer der Alte, aber schon vom Leben er=
müdet. Und wenn ich so in Jhren Lebenserinnerungen blättere
oder in denen Weingartners,und von den goldigen Altgrazer
Tagen lesen, v m Paradeis und Brotschimpl, fasst mich eine
rätselhafte Wehmut. Jch glaube, es ist die Trauer um das,
dass es früher ein Leben gab, heute nur noch ein Sichab-