Friedell, Egon: Billett an Lina Loos. Wien, 8.11.1915
Liebste Lina, hoffentlich schadet Dir der heutige Nebel nichts! Gestern
warst Du in sehr ungnädiger Laune, ich weiß eigentlich nicht, warum.
Das Publikum versuchte mich dafür dadurch zu entschädigen, daß es mich 40 Mi=
nuten nicht von der Bühne ließ. Aber umgekehrt wäre es mir lieber
gewesen.
Ich würde furchtbar gern Donnerstag in der Stadt mit Dir zu Mittag essen
und Dich vorher um 1/2 12 zu einem Spaziergang abholen. Bitte mache
mir die große Freude!
Da auf der Karte noch etwas Platz ist, so möchte ich Dich daran erinnern, dß
Du einmal gesagt hast, die Frau habe eine Gärtnerin zu sein. Damit
kann doch nur gemeint sein, daß sie Keime, die nur sie sieht, zur
Reife bringt, nicht aber, daß sie Dinge, die sogar schon da sind, ent=
weder gar nicht oder zögernd als letzte anerkennt, unter der - in doppeltem
Sinne - faulen Ausrede, sie nicht zu verstehen. Mangel an Verständnis ist
immer nur Mangel an genügend liebevollem Interesse. Unkräutern gegen=
über hast Du diese Behandlung angewendet, ich meine 1) gegen P. A., einen robusten Greißler
der sie nicht nötig hat, und 2) gegen Loos, eine taube Nuß, die sie nicht verdient!
Diese beiden wurden hysterisch überschätzt, während Du bei mir nicht einmal den
Versuch einer Einschätzung machst, mit der Begründung, es genüge ja, wenn mich
"die anderen" anerkennen. Dies genügt mir aber nicht.
Das Papier ist glücklicherweise zuende