Hayek, Max: Brief an Otto Tressler. Wien, 3.5.1928
MAX HAYEK
WIEN XVIII/1.,
WEIMARERSTRASSE 34.
WIEN, AM 5.März 192 8.
Hochverehrter Herr Tressler,
ich habe Sie in der letzten Zeit in zwei herrlichen Leistungen
bewundern dürfen,als Narciss und kürzlich als Peer Gynt.Ich möchte
mir erlauben,Ihnen mit bezug auf diese letzte Rolle eine kleine
Studie zu übersenden,die ich aus Anlass des 100.Geburtstages Henrik
Ibsen's(am 20.d.M.) geschrieben habe,und die der Gestalt der"Solveig"
gewidmet ist."Solveig" fand am Burgtheater allerdings eine ganz un-
zulängliche Darstellerin,der gar nichts daranzuliegen schien.
Was mich persönlich anbetrifft,hochverehrter Herr Tressler,
bin ich nach wie vor der Ansicht,dass Sie der lebensvollste Künstler
des Burgtheaters sind und dessen"farbigster" Schauspieler,wie Hermann
Bahr Sie einmal genannt hat.Dass wir Sie nicht als Mephisto sehen
werden, ist bedauerlich. Denn Sie wären zweifellos der pfiffigste und
beweglichste Mephisto der deutschen Bühne.Herr Aslan wird uns einen
überlegen nasalen Salonteufel franco-balkanischen Charakters zeigen,
wie ihn sich ein Goethe kaum vorgestellt haben dürfte.
Mit den besten Empfehlungen bin ich,hochverehrter Herr
Tressler,
Ihr stets ergebener
Max Hayek