Heuss, Alfred: Brief an Emil Petschnig. Leipzig, 27.12.1926
ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK
MONATSSCHRIFT FÜR EINE GEISTIGE ERNEUERUNG DER DEUTSCHEN MUSIK
GEGRÜNDET IM JAHRE 1834 VON ROBERT SCHUMANN
HAUPTSCHRIFTLEITER: DR. ALFRED HEUSS * LEIPZIG, SEEBURGSTRASSE 100
am 27. Dezember 1926
Dr.Hs./WI.
Herrn
Emil Petschnig
Wien XII/4
Bahnzeile 43
Sehr geehrter Herr Petschnig !
Da von Ihnen so lange keine Nachricht kam, musste ich
schliesslich annehmen, dass meine Karte verloren gegangen sei, und
da ich deshalb nicht im klaren war, wie Sie den Fall erledigt haben
wollten, so stellte ich Ihren Bericht über die Verdi'sche Oper zu -
rück. Nächste Woche werden Sie ja lesen, was ich meinerseits über d as
Werk zu sagen habe, wenn es auch zu einer eigentlichen Besprechung
der Musik garnicht gekommen ist. Ueber den Wert eines der neuen Verdi könnte
ich garnicht streiten, die Stellung, die Deutschland gegenüber
Verdi eingenommen hat, ist so wenig massgebend, wie die Stellung
Italiens Mozart gegenüber. In Deutschland ist man hinsichtlich Verdis
noch nicht veil weiter gelangt, als dass man den Masstab von Rigoletto
oder von der Aida hernimmt. Dass man damit bei Verdi nicht auskommt,
lehrt gerade auch die Macht des Schicksals. Wenn sie in Wien so gut
wie durchgefallen ist, so kann sie sich mit anderen bedeutenden Wer-
ken trösten, denen das gleiche Schicksal in Wien passiert ist. Unsere
Leipziger Aufführung ist schlecht, trotzdem dürfte sich aber das
Werk halten, In Dresden, wo die Erstaufführung stattfand, haben schon
FERNRUF NR. 26 897, 27 238 // POSTSCHECKKONTO LEIPZIG NR. 51 534, PRAG 78 059, WIEN A. 156724.