Kienzl, Hermann: Brief an Wilhelm Kienzl. Wilmersdorf bei Berlin, 28.11.1927
Berlin=Wilmersdorf Berlinerstr 10
28. Nov. 1927.
Mein lieber Gulian!
Für Deinen letzten Brief danke ich Dir. Dir geht es, wie
ich auch von gemeinsamen Bekannten hörte, ausgezeichnet,
und jenes Unwohlsein vor Wochen war gottlob belanglos.
Vor cca 8 Tagen rief mich Frau Castiglioni tele=
phonisch an. Sie bestätigte Gutes und meinte, Du
würdest demnächst nach Berlin kommen. Nach Deinen
eigenen Mitteilungen, ist aber davon doch nicht die
Rede! Der Erkundigung nach meinem Befinden konnte
ich nicht mit günstiger Nachricht dienen. Obwohl
ich jetzt wieder eine neue Tierquälerei durchmache,
nämlich schmerzhafte Pistyaner Schlammbäder, ändert
sich nichts zum Besseren, und die Schmerzen sind ab=
scheulich. Ich habe mit allen Hoffnungen abgeschlossen.
Heute kommt vom Ninerl eine Sorge, die noch
schlimmer ist, als mein fossiler Alterszustand. In
Berlin herrscht heftige Scharlach= und Diphterie=Epidemie,
und in Zehlendorf sind alle Schulen geschlossen. Heute
legte sich das Kind unter sehr verdächtigen Symptomen.
Bestimmtes konnte der Arzt noch nicht feststellen. -
Mit meinen Arbeiten geht's mühsam. Da ich nachts sehr
wenig schlafe, - es fehlen frische Luft und Bewegung, und
die Schmerzen überwinden die Schlafmittel! - wird der