Lehár, Franz: Brief an Paul Knepler. Wien, 15.6.1932
FRANZ LEHÁR
WIEN, VI.
THEOBALDGASSE 16
TEL.: B 29-2-58
BAD ISCHL
FRANZ-LEHÁR-KAI 8
TEL.: 84
Wien 15. 6. 32
Lieber Freund Knepler!
Vor Deiner Abreise nach Gastein richte ich noch diese Zeilen an Dich.
Es betrifft die „Giulietta”. Wir kommen um keinen Schritt weiter. Ihr wartet
immer darauf, dass ich Euch sage: Jetzt hab' ich mit der Arbeit begonnen und habt die
Ausarbeitung des Buches demzufolge immer verschoben. Ihr dachtet an eine gemeinsame
Zusammenarbeit und das ist der Trugschluß. Tatsache ist, dass ich noch immer kein
richtiges Libretto in Händen habe. Alle musikalischen Skizzen die ich bis jetzt
fertiggestellt habe sind für mich blos Anhaltspunkte. Jetzt benötige ich
absolut eine textliche Grundlage. Ich vermisse absolut den Aufbau der
Handlung, vermisse das folgerichtige Eingreifen der Nebenpersonen, kurz,
ich kann die Sache nicht „anpacken”.
Private Angelegenheiten haben mir die Lust genommen um die Fertigstellung
des Librettos zu kämpfen und so kam es, dass wir heute genau dort stehen,
wie wir im Herbst 31 in Ischl standen, wo Ihr mich allein in Ischl zurückgelassen
habt. Das soll kein Vorwurf sein. Ich will Euch nur beweisen, dass es
nicht meine Schuld ist, dass die Arbeit so zurückgeblieben ist.
Es ist noch nicht eine Szene plastisch ausgearbeitet. Die Musik ist hier in
diesem Falle noch Nebensache. Musikalisch kann ich mich erst ein=
fühlen, bis mir die ausgearbeiteten Szenen etwas sagen.
Keine einzige Prosaszene ist ausgeführt. Ich habe das Empfinden, dass
Ihr darauf wartet, das ich Euch den ganzen Klavierauszug vorlege, das Ihr
dann für den Gesang die Worte unterlegt und dass Ihr dann erst
die verbindende Prosa dazu schreiben wollt. So will ich aber nicht arbeiten.
Wenn ich nicht das starke, ausgearbeitete Buch erhalte, wird „Giulietta”
nie fertig.
Ich wollte Dir das alles schon gestern sagen, aber wir blieben nicht allein
und so hatte ich keine Gelegenheit zu einer Aussprache.
Es grüsst Dich herzlichst Dein getreuester
Le[hárF]