Liegler, Leopold: Postkarte an Karl Kraus. Wien, 15.6.1917
15. VI. 17
Sehr geehrter Herr Kraus! Soeben bekomme ich
Ihre Karte vom 3. Juni. Es tut mir leid, daß Sie
keine Nachricht von mir erhalten, ich schrieb bis-
her 3 Karten, teilte mit, daß das Gedichtbuch er-
ledigt sei, daß die Aphorismen ausgesetzt
sind und daß Ihnen die Korrekturen, wenn
Sie sie haben wollten, zur Verfügung ständen.
Bezüglich der Apokalypse bin ich Ihrer Mei-
nung, sie in Untergang der Welt zu nehmen.
Außerdem würde ich vorschlagen, die Stücke
„Sie gehören zusammen! Sie gehören nicht
zusammen” aus No. 291 vom November 1909
eventuell auch noch „Schrecken der Unsterb-
lichkeit” aus demselben Heft, dann die Serie
Münz zu übernehmen. Bei der Durchsicht
der Hefte aus 1909 und 1910 wunderte ich
mich, dass Hirsch in der Jagdausstellung
Schönebeckmesser, Desperanto, Traum ein
Wiener Leben noch obdachlos sind; besonders
bezüglich des ersten und letzten Stückes wäre zu über-
legen ob sie nicht in Untergang d. Welt gehörten.
Schließlich ist noch über die Immunisierung
zu erwähnen, daß die Sache im Lauf, aber noch
nicht entschieden ist, ich werde sofort berichten,
wenn ich was Sicheres hierüber weiß. - Es ist
möglich, daß die Aufsatz- und Buchtitel in
meinen Karten von der Zensur für Chiffren gehalten
und daher konfisziert worden sind, das tut mir leid;
jedenfalls bitte ich mein Stillschweigen nicht mir sondern
der Post zur Last zu legen. Es grüßt Sie herzlich Ihr ergebener L.L.
[seitlich:] Im Hause Florianigasse-Landesgerichtsstraße war ich zu Besuch und soll Empfehlungen an Sie ausrichten