Ray, Marcel: Brief an Karl Kraus. Toulouse, 15.6.1915
Toulouse, 50. rue Alsace-Lorraine
15. 6. 1915.
Lieber Karl Kraus!
An dem verloren gegangenen Brief verlieren
Sie nicht viel. Ich erzählte Ihnen kurz von meinen
Wegen und Erfahrungen seit der Kriegserklärung. Ich
brachte meine Befürchtung zum Ausdruck, dass wir
doch mit einem halben Weltuntergang würden vorlieb
nehmen müssen. Dass wir dem Fluch der Halbheit nicht
entgehen würden. Dabei spendete ich Ihnen das schlichte
verdiente Lob, der einzige gewesen zu sein, der die
Katastrophe nicht nur prophezeit, sondern herbeigesehnt
hätte. Für die Mängel der Ausstattung sind Sie nicht
verantwortlich, noch weniger dafür, dass der Deus ex
machina allzuoft daneben schlägt und die Richtigen
nicht trifft. Die Richtigen sind eben die Richtigen. Einem
so schlüpfrigen Pack kann der tüchtigste Erzengel mit
dem flammendsten Schwert nichts anhaben. Las ich
doch noch gestern, dass ein Budapester Mitglied des
englischen Parlaments dem Henkersstrang zeitig und
glücklich entlaufen sei, und in amerikanischen
Blättern seine Schande zu Geld beichte. Wie heisst
dieser Held? Natürlich Trebitsch.
Ich fragte Sie auch, ob Maximilian Harden
an seiner „Umwortung aller Worte″ weiter arbeite.
Ob der Ernst der Zeit unsern Peter dazu gebracht hätte,