Brass, Hermann: Brief an Heinrich Friedjung. Wien, 10.11.1916
Wien, den 10.November 1916
Sehr geehrter Herr !
Ich erlaube mir Ihnen beiliegend zwei Auseinandersetzun-
gen zu übersenden, die bereits vor der Ermordung des Ministerprä-
sidenten Grafen Stürgkh verfasst und vervielfältigt waren. Wenn
auch jetzt ein Teil der Auseinandersetzungen wertlos geworden ist,
und sachlich nicht mehr ganz zutrifft, so habe ich mich trotzdem
entschlossen, sie den Herren, von denen ich glaube, daß sie ein In-
teresse dafür haben könnten, zu senden.
Die Auseinandersetzungen mögen teilweise dazu beitragen,
die irrigen Ansichten, die über die Person des gewesenen Minister-
präsidenten verbreitet sind und die falschen Darstellungen seiner
Persönlichkeit etwas richtig zu stellen.
Ich kann heute nach seinem Tode meine Meinung über ihn,
die ich mir durch eine größere Anzahl vertraulicher Besprechungen,
die ich mit ihm hatte, gebildet habe, schärferen Ausdruck geben.
Ich verletze dadurch nicht mehr die Vertraulichkeit und so erkläre
ich, daß, so weit ich den Grafen Stürgkh in diesen Besprechungen ken-
nen gelernt habe, ich ihn als gut deutsch und freiheitlich gesinnt
bezeichnen kann. Es stand für mich fest, daß er als deutschfreiheit-
lich gesinnter Politiker nicht nur stets pflichtgemäß die Interes-
sen des Staates zu wahren bestrebt war, sondern daß ihm auch die
Wahrung der Interessen seines deutschen Volkes Herzenssache war.