Bettelheim, Helene: Brief an Heinrich Friedjung. Wien, 29.3.1919
29. III. 1919
Verehrter Freund !
Gestern Abend benutzte ich die erste freie Stunde, um Ihre, mich
sehr interessierende Charakteristik unseres alten Kaisers zu
lesen, der Sie, die nur allzu symbolischen Verse Machars voran-
schicken, die bloß vom Schatten sprechen, der geworfen wurde u.
nichts von einem gespendeten Lichte wissen! - Sie zeigen uns
ein Mosaikbild des nicht neidens werthen Monarchen, von un-
zähligen, fein gefügten u. abgetönten Steinchen zusammen-
gestellt. So genau man es nur aus nächster Nähe abgucken
kann; u. es ist ein unschätzbares Material für zukünftige
Geschlechter, für uns - deren Leben sich unter seiner Regierung
abgespielt - ein gar wichtiges Dokument, das uns befähigt
Sein einstiges Wirken Zug um Zug zu prüfen, u. dem
Begreifen manches Unbegreiflichen in unserer unglück-
lichen Heimath näher zu kommen.
Die Zukunft, die wir nicht mehr erleben werden, kann