Bettelheim, Helene: Brief an Heinrich Friedjung. Wien, 29.3.1919
aber erst ihr abschließendes Urtheil über ihn sprechen, wird erst zeigen ob die
Verschlossenheit u. Undurchdringlichkeit die ihm eigen waren, eine wirk-
liche Tiefe verbargen oder nur eine Kargheit seiner Naturanlagen
verdeckten. Wer vermag das zu entscheiden, ehe die Archive ihre
Geheimakten über seine Regierungszeit liefern, u. ehe in Tage-
büchern u. Briefschaften seiner Partheigänger u. Widersacher, sein
eigenstes Wesen nach u. nach entschleiert wird.
Die ominöse Aehnlichkeit mit seinem Großvater, die
Sie selbstverständlich streifen, zeigt sich auch darin, dß er
es liebte seine Minister gegeneinander aus zuspielen, wenn
auch nicht so perfid, als Kaiser Franz das mit den beiden
intimen Feinden Metternich u. Kolowrat trieb.
Hoffentlich saß im Staatsrath Franz Josef I. auch irgend
ein Kübeck, der diese Staatskomödie so eingehend u. mit
leiser Ironie durchleuchtet, wie Jener, in seinen Aufzeich-
nungen, für späte Enkel festgehalten hat ! -
Die Auszeichnung oesterreichischer Minister zu sein, muß
einen harten Dienst bedeutet haben, aber es war sicher
auch ein Kunststück 68 Jahre lang, in Ehren u. mit