Felner, Karl von: Brief an Arthur Roessler. Berlin, 26.12.1914
KARL VON FELNER
BERLIN-WESTEND
LEISTIKOWSTRASSE 6
TEL. WILH. 4074
den 26.Dzb.1914.
Lieber Alter,
ja, Weihnachten ist auch vorüber, und
nicht einmal da hatte ich Ruhe. Beide Kinder liegen mit Halsent-
zündung im Bett, und fieberten gerade am Kristabend am heftigsten.
Sie krochen mühsam aus den Betten zum Kristbaum und hatten gar
nichts von der Weihnachtsfreude, die von den physischen Schmerzen
vollständig erstickt wurde. Beim Jungen brach endlich heute früh
das Mandelabcess auf; das Mädelchen wird hoffentlich verschont
davor bleiben, wenngleich sie auch immer noch Halsschmerzen hat.
Und dazu lag meine Frau weit weg von hier noch immer nicht ganz
hergestellt. Ich bin halt auch vier Monate in meinem Schützengra-
ben gelegen, und will weiter nicht lamentiren, denn es hätte doch
nichts geholfen, so wenig wie denen dort draußen. Man steht doch
am besten allem fatalistisch gegenüber, denn der Einzelne vermag
da nichts zu verändern; sondern jede tue sein Bestes, dann hat er
keine Gewissensverantwortung. Alles geht nach Notwendigkeiten,
und wenn man z-B. sagt: dieser Krieg wäre nicht notwendig gewesen,
so gehört das der Vergangenheit an. Mit gegebenen Verhältnissen sich
auseinandersetzen, ohne das, was sie gab, einer Kritik zu unter-
ziehen, solange die Verhältnisse eben bestehen: das heißt, mit
dem Leben fertig werden. Die Vergangenheit ist oft nur ein schwere
Fussfessel, die uns die Bewegungsfreiheit nimmt. Und Freiligrat
hat nicht Recht behalten, wenn er einmal sagte:"Hamlet ist Deutsch-
land". Deutschland hat nichts von dessen Neurasthenie; sonst wärs