Franzos, Ottilie: Brief an Julius Pée. Wien, 11.9.1925
Wien, 11. 9. 25:
Lieber & verehrter Herr Professor! Ich frug vor ein paar Tagen
bei Diederichs an, ob er Ihnen direkt Bescheid gegeben hätte. Nun
erhalte ich heute das Ms. mit hier beigelegter Motivierung
zurück. Ist es Ihnen recht, so berate ich mich mit einem jun-
gen Freund, der öfter für Journale schreibt, wohin ich das
Ms. schicken könnte. Dieser kehrt in den nächsten Tagen mit
den geliebten Buben nach Wien zurück. Da sie per Auto
kommen, bitte ich Gott doppelt um seinen Schutz für sie.
In meiner letzten kurzen Karte habe ich gar nicht ordentlich für
Ihren Brief gedankt und für die für mich fast erschütternde Versicherung
daß ich Ihnen in den letzten Jahren einen kleinen, sagen wir: Talg-
lichtkerzenschein in ihr Leben gebracht habe. Sie können gar
nicht ahnen, wie ganz überflüssig mir mein Nochdasein auf
dieser Erde erscheint. Da ist es natürlich eine große Freude
noch Einem irgend etwas zu sein.
In letzter Zeit habe ich viel an den Autographen geord-
net, doch ist mir diese Arbeit sehr langweilig und ein
Fertigwerden ziemlich aussichtslos.
Denken Sie, die Wiener Gymnasien werden fast alle
in Realgymnasien umgewandelt, so daß Griechisch ganz
entfällt. Das wird aber nicht, wie es doch wohl richtig
wäre, erst von den Neueintretenden gemacht,
sondern schon von der Vierten (Obertertia) an, in die
Rudolf am 15/9 kommt. Michel kommt in die Zweite (Quarta).
So gerne ich, ich gestehe es offen, ich Rudolf Griechisch erspare,
bin ich doch nicht entzückt. Zeichnen, Mathematik, Geome-
trie wird wohl viel strenger gehandhabt werden. Zeichnen
hat das Humanistische ja überhaupt nicht, so daß die
Obertertia nun eigentlich 3 Jahre nachholen müsste. Ich
bin mir natürlich völlig bewusst, daß ich alles, was den
geliebten Buben betrifft, zu schwer nehme.
"Mit Sorgen und mit Grämen
Und mit selbsteigener Pein,
Läßt Gott ihm gar nichts nehmen" . . .
Außerordentlich merkwürdig ist mir daß Goethe Paul
Gerhart so ganz verwirft (Gesp. m. Eckermann.) Ich finde
das: "Befiehl Du Deine Wege". . . unendlich schön.
Die Briefe an Cotta haben meinen Standpunkt wieder
bestärkt, daß Mensch und Dichter völlig zu trennen
sind, denn Schiller leuchtet in ihnen als reines Gold,
Goethe als steifes Pergament. Freilich ist das der
ältliche Goethe. Im gehörigen Abstand: Storm als Dichter