Friedländer, Alice: Brief an Elise und Helene Richter. Berlin, 8.5.1919
Berlin, 8. Mai 1919 .
Meine Lieben,
Ich konnte bis heute nicht dazu kommen,
mich in Ruhe zum schreiben zu setzen. Nun sind
wir eine Woche hier, aber die Eindrücke u. Stra-
patzen der Wiener Reise stecken uns noch in den
Gliedern. Dass ich Euch wiedersehen konnte, ist der
einzige erfreuliche Ertrag dieser sonst so qual-
vollen Unternehmung. Der Aufenthalt in der Gonza-
gagasse erscheint mir wie ein böser Fieber-
traum. Die Rückfahrt war beinah noch schlim-
mer als die Hinfahrt; besonders die erste Nacht. Von
1/2 9 - 1/2 12 stand man eingekeilt zwischen Menschen
u. Gepäck im Freien bei bitterer Kälte u. harrte
der tschechischen Gepäcksrevision. Um 2 kam
man in Prag an, musste zum anderen Bahnhof
laufen u. dort in einem zugigen, eiskalten
Gang vor den Wartesälen (denn diese waren
geschlossen) bis 6 1/2 Uhr auf einer harten Bank
warten. In Bodenbach, wo man um 11 1/2 Vormittags ankam,
ging der nächste Zug erst 8 1/2 Uhr Abds. weiter.
Man trieb sich also dort herum, ein Zimmer
in einem Hotel, wo wir ein bischen ausruhen
wollten, war zu eisig, um sich länger drin auf-
zuhalten. In Dresden konnten wir endlich von 12 -