Friedländer, Alice: Brief an Elise und Helene Richter. Berlin, 8.5.1919
6 1/2 Uhr schlafen, und um 11 Uhr des zweiten Tages
trafen wir in Berlin ein. Es war der erste Mai,
Strassenbahnen gingen nicht, wir mussten uns also
zu Fuss auf den Weg machen. Zum Glück nahm
uns unterwegs ein improvisirter Stellwagen auf.
An diese Reise werde ich denken ! Und jetzt geht
die Route wieder über Passau-Regensburg, ohne
alle Schwierigkeiten ! Da könnte man doch platzen
vor Ärger. -
Franz u. ich spüren sehr die Überanstrengung
und mangelhafte Ernährung. Besonders Franz macht
mir grosse Sorge. Er hatte gestern im Colleg einen
bedenklichen Schwächeanfall, ist auch heute sehr
schlapp u. muss Nachmittag liegen. Ich fürchte, er
kann die Fülle der Vorlesungen u. dazu häusliche
Arbeit nicht aushalten. Es rächt sich wohl, dass
er, sehr gegen meinen Rat, nicht ausgeruht u.
sich erholt hat, als er aus dem Felde zurück-
kam. Wir fürchten, er wird das Semester nicht
durchhalten können. - Ich koche fleissig, es
strengt mich aber auch sehr an. - Das Buch von der
Wilbrandt hat mir grosse Freude gemacht u. ich danke
Euch nochmals herzlich dafür. - Die Wahlen in Wien
scheinen ungünstig ausgefallen zu sein. Schade
um die grosse Mühe ! Über unsere Stimmung seit ge-
stern will ich nichts sagen. Ihr könnt sie Euch ausmalen.
Nun lebt wohl und schreibt mir bald, ich will desglei-
chen tun. In Eile Eure getreue Alice