Gräf, Hans Gerhard: Brief an Otto Weissel. Weimar, 5.11.1918
Weimar, Liszt Str. 23 II, 5. XI. 18.
Sehr verehrter Herr Doktor,
Gestern Abend aus München zurückkehrend fand ich Ihr Brieflein,
dem heute Ihre Karte folgte, beides erfüllt von einer herzlichen An=
teilnahme u. wahrhaft freundschaftlichen Gesinnung, die mir
wie meiner lieben Frau gerade jetzt unendlich wohl thut, u. für
die wir Ihnen herzlichst danken. Ja, wo beginnen, wo aufhören
mit meinem Bericht, den Sie wünschen und den zu geben es mich
lebhaft drängt! - Eine fürchterliche Sturzsee hat in diesen
2 Wochen meines Aufenthalts in München unsre Länder erschüttert,
daß Festgegründetes in allen Fugen kracht und die furchtbare
Erschütterung in jedem Einzelnen gewaltig nachbebt. Und wie
im Katarakt einer allgemeinen Katastrophe wieder unzählige
Einzelzerreißungen stattfinden, über die das allgemeine große Ge=
schehen gleichgültig sich hinweg wälzt, die aber jede einzelne wieder
den Charakter einer Tragödie haben kann, so hier das Geschick der
armen Familie Procksch und unsrer beiden lieben Töchter! Stumm
müssen wir uns beugen vor dem Unerforschlichen, und wie Goethes Seefahrer
die Faust fest am Steuer, herrschend blicken auf die grimme
Tiefe, und vertrauen, scheiternd oder landend, unsern Göttern.
Ersparen Sie mir eine Erzählung der Katastrophe, über die Sie ja
auch durch Herrn Dr. Procksch und die gute Riedi genügend unter=
richtet sein werden. Wenn die arme Mutter P., noch wund vom Verlust
ihres Lieblingsbruders, jetzt ganz verstummte in ihrem Leid,
so würde ich mich nicht wundern. Bewundert aber habe ich die