Gräf, Hans Gerhard: Brief an Otto Weissel. Weimar, 5.11.1918
Fassung u. Ergebung, mit der sie ihr Schicksal in München trug. -
Lassen Sie mich Ihnen lieber sagen, daß meine Töchter auf d. Wege der
Besserung sind. Lili zwar, die gemütsweiche, 21jährige, die nun schon
in solcher Jugend nicht nur dem Tode ins Angesicht geblickt, sondern
das ganze lange qualvolle Sterben eines vorzeitig dahingerafften
geliebten Menschen miterlebt hat (denn sie hat Thildi vom 18. Okt.
bis zum 20. Abends, wo Riedi eintraf, Tag u. Nacht ganz allein unausgesetzt
betreut bis zur äußersten Erschöpfung ihrer seelischen u. körperlichen
Kräfte), Lili muß noch das Bett hüten, ist aber die letzten beiden
Tage meines Dortseins ohne Fieber gewesen, so daß wir hoffen, sie
werde Ende dieser Woche aufstehen oder sogar auszugehen anfangen können.
Hannchen, die klare, vernünftige, ruhige, hat sich mit außerordent=
licher Kraft in diesem Zusammenbruch ihrer ganzen Zukunftspläne
als ein großartiger Mensch bewährt. Ich darf, als ihr Vater, sagen,
daß ich mit hoher Bewunderung auf dieses junge Menschenkind blicke.
Gut aber, daß Sie beide Mädelchen jetzt nicht sehen! meine Frau
war außer sich, als sie sie in ihren Betten nebeneinander liegend
erblickte - bleich, hohlwangig, wie zerknickt in der Blüte
des Lebens, unheimlich apathisch u. schlafsüchtig. Das hat sich
ja, G. s. D., gebessert; aber Hannchen wird in Jahren diesen Schlag
nicht überwinden, bis durch die allheilende Zeit dieser Schmerz
zum Heiligtum ihrer Seele geläutert sein wird, u., wie ich hoffe,
zum nährenden Quell ihrer künstlerischen Tätigkeit. Sie hat in
der auch von uns geliebten Thildi ihre beste, einzige Freundin verloren,
mit der sie während der letzten 3 Jahre unzertrennlich gelebt hat, mit
der sie immer zu leben u. zu arbeiten gedachte, ihren guten Kameraden.
Und einen bessern hätte sie nicht gefunden. So muß ihr
Gemüt namenlos leiden für lange Zeit. Aber es kommt leider
[Fortsetzung von * auf Blatt 3, linker Rand:] stehenden Berufs zu gestatten, ebenso bei Lili.