Gräf, Hans Gerhard: Brief an Otto Weissel. Weimar, 5.11.1918
noch mehr hinzu, um diesen Verlust, auch für uns Eltern, zu einer
wahren Katastrophe zu machen. Wie seelisch menschlich, so gab Thildi sich
auch materiell unsrer Tochter stets helfend, mitteilend, unterstützend
ganz hin; sie konnte das, weil sie in guten ökonomischen Verhältnissen
lebte, u. that es so freudig u. selbstverständlich, wie es ein reiner, grund=
edler Mensch eben naturnotwendig thut. Könnte sie jetzt ihr über alles
geliebtes "Han" sehen, verlassen, arm, nicht wissend, wo aus u. ein, es
würde ihr ein unendlicher Schmerz sein. Und in der That, wir wissen
nicht, wo die Mittel hernehmen, um Hannchen die beschrittene, ihrer
Fähigkeit u. Neigung einzig angemessene Laufbahn verfolgen zu lassen.*
Ja, noch mehr! niemals hätte es mir in den Sinn kommen können u
dürfen, auch unsre Lili sich der Kunst widmen zu lassen, wenn ich nicht
eben hätte darauf fest bauen dürfen, daß ihre ältere Schwester zwar
gewiß etwas Tüchtiges leisten u. sich einmal werde selbstständig machen
können, dabei aber doch einen festen materiellen Rückhalt dauernd
an ihrer aufopferungsfreudigen Busenfreundin gehabt hätte. Schreiben
Sie es, verehrtester Herr Doktor, Ihrer vertrauenerweckenden großen u.
wahren Anteilnahme zu, die Sie einem Ihnen persönlich ja noch
unbekannten, tieftraurigen Vater widmen, wenn ich die Sorgen und
Nöte so offen vor Ihnen darlege. Ich halte es für nicht ganz aus=
geschlossen, daß Sie in der Lage wären (denn Sie kennen die Eltern
der armen Thildi ja seit vielen Jahren), und daß Sie vielleicht
auch gewillt wären (denn Ihre mir erwiesene Anteilnahme
spricht zu laut dafür), daß Sie, meine ich, bei einer sich bietenden
Gelegenheit Herrn Dr. Procksch, oder, falls das besser wäre, Frau Dr. P.
von meiner höchst mißlichen, pekuniären Lage Mitteilung machten,
in die ich durch diese tieftraurigen Ereignisse geraten bin, u. deren
Schwere sie selbstverständlich auch nicht entfernt ahnen können.
Zwar hat der Vater P. jetzt enorme Ausgaben gehabt, denn, wenn man
auch im gewöhnlichen Leben sagt: "Nur der Tod ist umsonst", so gehen
  • Diese klare Einsicht machte es mir zur Pflicht, ihr das Ergreifen dieses mit meinen Verhältnissen in Widerspruch [Fortsetzung Blatt 2 linker Rand]