Haus, Anton von: Brief an Lucia von Fries-Skene. Pola, 23.12.1916 - 30.12.1916
Der Käfig im Freien war schon von
viel Leuten, meist Indiern, umringt,
der Tiger drin sehr aufgeregt, von
der Erwartung u. von den Verwün=
schungen u. Beleidigungen des rachsüch=
tigen Publikums. Endlich wurde ihm
am Käfigboden eine Ochsenkeule halb
hineingeschoben. Mit einem blitzschnel=
len Tatzenstreich riß er das blutige
Fleisch ganz hinein in die Mitte des Kä=
figs. Beide Pratzen daraufgelegt, lag
er da, blickte, entsetzliches Wutgebrüll
ausstossend, mit haßsprühenden Augen
die Zuschauer herum an, als wollte er
fragen: Wer will es mir wegneh=
men? Dann u. wann leckte seine
Zunge das Blut vom Fleisch, worauf
sein Brüllen wieder etwas weniger
heiser klang. Aber auf seinen Hunger u.
auf's Fressen hatte er ganz vergessen: seine
Aufregung u. Gier waren zu stark ge=
wesen. Erst nach 20-30 Minuten konnte er
ein Stück herausbeißen u. verschlingen.
Wo ist da eine Ähnlichkeit mit mir, wenn
ich nach einer Woche u. mehr Ihren Brief er=
blicke? fragen Sie erstaunt. Gar keine äußer=
liche. Aber stärker kann Menschensehnen nicht
sein, als meines nach dem, was ich nun endlich,
endlich in der Hand halte, stärker nicht ein Herz=
klopfen, die Aufregung, die mir das Lesen fast
unmöglich machen. Wird es noch heute sein, oder erst
morgen, oder erst im Neujahr?? -
Glückliches Neujahr! dem Lords Darling u. meinem,
meiner lieben, verehrten, angebeteten Freundin! Ihr A. Haus