Kienzl, Hermann: Brief an Wilhelm Kienzl. Wilmersdorf bei Berlin, 25.11.1926
Berlin=Wilmersdf Berlinerstr 10
25. Nov. 1926.
Lieber Gulian!
Mitten in Plage und körperlicher Quälerei, nahm
ich den Augenblick beim Schopf, Deine Karte zu beant=
worten. Würde Dir ja öfter über meinen Zustand
berichten, wenn mir die Annehmlichkeit beschieden
wäre, Neues mitzuteilen. Das könnte ja nur
was Günstigeres sein, als das alte Elend, sintemalen
auch eine rasche Erledigung dem schmerzhaften Krüppel=
wesen vorzuziehen wäre. Aber ich will mich
jetzt lieber an Dich und Deine Lebensfreuden halten!
Du genießest in langen Vorwochen die Freuden der
Geburtstagsehren, und diese Aufteilung des Ereignisses
ist bei der Kürze des eigentlichen Festtages recht
praktisch. Mir tut's heute schon leid, daß ich zu
Deinem Siebzigsten nicht nach Wien kommen kann;
bei meiner Verfassung ist es vollkommen ausge=
schlossen. Ich muß froh sein, wenn ich in langer
Turnübung die Treppe meines Hauses bewältigen
kann, und dann bin ich jedesmal eine Weile
ohne Atem und ächze vor Schmerzen. Arbeiten
tu ich übrigens trotzdem genug, nur nichts
Rechtes, lauter Forderungen des Tages und noch
mehr Ärger des Tages nehmen mich in Anspruch.
Daß Du Dich plötzlich auf ein großes Orchester=
werk gestürzt hast, finde ich ebenso wunderlich,