Kienzl, Wilhelm: Brief an Nina Kienzl. Bad Aussee, 23.7.1915
Auch meiner lieben Nachbarin Frau
v. Krones werde ich Deine Post ausrich-
ten. - Dass Hans nicht bei Dir mie-
tete, ist auch wieder so eine der vie-
len dankbaren Lebenserfahrungen, die
Du im Laufe Deines langen u. reichen
Lebens gemacht hast. Ja, ja! Nur
von den Menschen, u. wer sie auch im-
mer sind, nicht's erwarten! Das ist
längst mein Lebensgrundsatz geworden,
bei dem ich sehr gut fahre. Aus der
diesem Grundsatze zugrundeliegenden Er-
kenntnis heraus ist mein neuestes drama-
tisches Werk gewachsen. Zum Schluss dieses
Namenstagsbriefes teile ich Dir als Dir
- wie ich hoffe - liebstes Geschenk mit, dass
ich vor ein paar Tagen (mit Ausnahme von
Ouverture u. Vorspiel zum 2. Akt) die Komposi-
tion meines „Testaments“ vollendet habe.
Es war vorgestern große Vorspielung u. Vorsingung
desselben, an der im Festkleide Lili, Marianne,
Else Hedding, Martha, Erna, Hans, Werner Jüllig, Hen-
ny Bauer, Wolf Wehle, Frau v. Krones u. Frau v. Merath
(Olga u. Freundin saßen auf der Veranda!) als Hörer teil-
nahmen. Alle waren geradezu begeistert; das ist
wirklich nicht zu viel gesagt. Du hast halt gefehlt.
Nun kommt erst die Riesen=Ausdauerarbeit von Aus-
arbeitung, Klavierauszug u. Partitur. Bis Ende des Jahres
hoffe ich damit fertig zu werden. Es küsst u. umarmt Dich innig
Dein Dich liebender, dankbarer Sohn Wilhelm