Ludwigsburg (Württemberg)
Goethestraße 1, den 13. Mai 1929.
Hochgeschätzte, liebe Frau Professor!
Eine mir höchst willkommene, längst ersehnte Gelegenheit, Ihnen durch persön-
liche Vermittlung Gruß und Lebenszeichen zu senden hat sich mir soeben eröffnet:
unsere Freundin, Frl. Studienrat Marie Breit aus Stuttgart, rüstet sich zu
einer Reise nach Wien, um am dortigen Philologentag teilzunehmen. Sie selbst,
seit lange und nicht zum wenigsten von uns inspiriert eine begeisterte Ver=
ehrerin Ihrer Muse, macht sich eine Ehre daraus, Ihnen bei Gelegenheit diese
Zeilen zu übergeben.
WIe lange ist es her, daß wir nichts mehr von einander gehört haben! Als
1921 Hugo Wolfs Briefe an Sie mit Ihrem herzerwärmenden Nachwort erschienen,
habe ich Ihnen zum letztenmal einige Worte freundschaftlichen Gedenkens
und treuer Dankbarkeit zugerufen; dann erfuhren wir zu unserer Freude und
Beruhigung durch Frau Bokmayer aus Mödling, die einige Zeit in ihrer Heimat
Ravensburg zubrachte und uns in Stuttgart besuchte, daß es Ihnen gut ergehe
und Sie eine fruchtbare populär=literarische Tätigkeit entfalten, und sooft
ich jemand treffe, der von Wien zu uns herauskommt, ist eine meiner ersten
Fragen: Kennen Sie Rosa Mayreder und wie geht es ihr? Sind es doch un=
sichtbar feine, unzerreißbare Fäden, die uns seit dem Erscheinen des großen
Sterns Hugo Wolf verknüpfen: wer so wie Sie in der Seele des Einzigartigen
gelesen und sein geniales Schaffen mit nicht nur künstlerischem, sondern
fast mütterlichem Interesse verfolgt hat, muß einem anderen, der von Anfang
an im Banne des Zauberers stand und sich mit Haut und Haar zu sei-
nem Kunstideal bekennt, ans Herz gewachsen und aufs engste verbunden
sein. Ich bin nachgerade im Schwabenland (mit meinem Freund Wilh. Schmid
in Tübingen) einer der ganz wenigen, die noch die Tradition der Wolf'schen
Kunst aus der ersten Quelle persönlicher Bekanntschaft mit dem Meister
kennen und pflegen, ja ich kann ohne Eitelkeit von mir sagen, daß
ich noch mehr als Schmid vom Wolf'schen Geist einen Hauch verspürt habe.
Da Schmid die Bedeutung der Brucknerschen Symphonien mit ihrem kos=
mischen Ideengehalt für so überragend hält, daß Wolfs lyrischer Mikro=
kosmus dagegen nicht mehr aufkomme. Im Gegensatz dazu sagt mir ein
instinktives Empfinden, daß nicht in den Dimensionen eines Kunstwerks
allein seine Größe ruht, und nur die geniale Treffsicherheit des
Wolf'schen Liedes sogar ursprünglicher erscheint, etwa wie die Blume auf
dem Feld gegenüber den erhabensten Domen und Palästen der Stadt.
Und am meisten von Wolfs Herzblut durchrinnt jede Ader des Corregidor,
den ich und alle die Meinigen wie eine Art Laienbrevier verehren. Ja,
gäbe es ein Mittel, das spezifische Gewicht der Musik zu bestimmen, ich
glaube, der Corregidor würde selbst die Meistersinger beträchtlich übertreffen:
denn auch die Kongruenz zwischen Wort und Ton bei Wagner um nichts
vollkommender als in der Wolf'schen Oper, deren Sujet u. Libretto mir
Goethestraße 1, den 13. Mai 1929.
Hochgeschätzte, liebe Frau Professor!
Eine mir höchst willkommene, längst ersehnte Gelegenheit, Ihnen durch persön-
liche Vermittlung Gruß und Lebenszeichen zu senden hat sich mir soeben eröffnet:
unsere Freundin, Frl. Studienrat Marie Breit aus Stuttgart, rüstet sich zu
einer Reise nach Wien, um am dortigen Philologentag teilzunehmen. Sie selbst,
seit lange und nicht zum wenigsten von uns inspiriert eine begeisterte Ver=
ehrerin Ihrer Muse, macht sich eine Ehre daraus, Ihnen bei Gelegenheit diese
Zeilen zu übergeben.
WIe lange ist es her, daß wir nichts mehr von einander gehört haben! Als
1921 Hugo Wolfs Briefe an Sie mit Ihrem herzerwärmenden Nachwort erschienen,
habe ich Ihnen zum letztenmal einige Worte freundschaftlichen Gedenkens
und treuer Dankbarkeit zugerufen; dann erfuhren wir zu unserer Freude und
Beruhigung durch Frau Bokmayer aus Mödling, die einige Zeit in ihrer Heimat
Ravensburg zubrachte und uns in Stuttgart besuchte, daß es Ihnen gut ergehe
und Sie eine fruchtbare populär=literarische Tätigkeit entfalten, und sooft
ich jemand treffe, der von Wien zu uns herauskommt, ist eine meiner ersten
Fragen: Kennen Sie Rosa Mayreder und wie geht es ihr? Sind es doch un=
sichtbar feine, unzerreißbare Fäden, die uns seit dem Erscheinen des großen
Sterns Hugo Wolf verknüpfen: wer so wie Sie in der Seele des Einzigartigen
gelesen und sein geniales Schaffen mit nicht nur künstlerischem, sondern
fast mütterlichem Interesse verfolgt hat, muß einem anderen, der von Anfang
an im Banne des Zauberers stand und sich mit Haut und Haar zu sei-
nem Kunstideal bekennt, ans Herz gewachsen und aufs engste verbunden
sein. Ich bin nachgerade im Schwabenland (mit meinem Freund Wilh. Schmid
in Tübingen) einer der ganz wenigen, die noch die Tradition der Wolf'schen
Kunst aus der ersten Quelle persönlicher Bekanntschaft mit dem Meister
kennen und pflegen, ja ich kann ohne Eitelkeit von mir sagen, daß
ich noch mehr als Schmid vom Wolf'schen Geist einen Hauch verspürt habe.
Da Schmid die Bedeutung der Brucknerschen Symphonien mit ihrem kos=
mischen Ideengehalt für so überragend hält, daß Wolfs lyrischer Mikro=
kosmus dagegen nicht mehr aufkomme. Im Gegensatz dazu sagt mir ein
instinktives Empfinden, daß nicht in den Dimensionen eines Kunstwerks
allein seine Größe ruht, und nur die geniale Treffsicherheit des
Wolf'schen Liedes sogar ursprünglicher erscheint, etwa wie die Blume auf
dem Feld gegenüber den erhabensten Domen und Palästen der Stadt.
Und am meisten von Wolfs Herzblut durchrinnt jede Ader des Corregidor,
den ich und alle die Meinigen wie eine Art Laienbrevier verehren. Ja,
gäbe es ein Mittel, das spezifische Gewicht der Musik zu bestimmen, ich
glaube, der Corregidor würde selbst die Meistersinger beträchtlich übertreffen:
denn auch die Kongruenz zwischen Wort und Ton bei Wagner um nichts
vollkommender als in der Wolf'schen Oper, deren Sujet u. Libretto mir