Franzos, Ottilie: Brief an Julius Pée. Wien, 11.1.1922
Wien, 11. 1. 22
"Lasse Deine Hände sein stets hilfsbereit,
flüchte Deine Seele fort aus dieser Zeit . . . "
So flüchte ich, lieber Herr Professor, mit Hinwegschiebung zahl-
loser Pflichten zu Ihnen, um Alles zu vergessen, was der
traurige Wiener Tag bringt. Von ihm erzählen ist unendlich
schwer, wenn es nicht wie Klage klingen soll! Nur soviel:
das Brot kostet nun wirklich 316 Kronen und alles
andere dem entsprechend.
Für Ihre beiden letzten Briefe vielen Dank. Ich danke
auch noch besonders, daß Sie bei Ihren Sendungen
stets den Vermerk machen: "Für die Armen", Sie erleichtern
mir das Umwechseln dadurch unendlich. Ich bitte, auch noch
sehr, das jeder künftigen Sendung beizufügen, wenn noch
eine kommen sollte. Der frc. ging in Gestalt von 500 Kr.
an einen meiner Vettern, der im jüdischen Versorgungs-
haus ein seit Jahrzehnten durch Krankheit nutzloses Leben
fristet und so sehr klagt, daß er nie Geld in Händen hat.
Nun kann er doch 5mal in´s Kino oder in ein Kaf-
feehaus auf eine kleine Tasse schwarzen Kaffee gehen
oder sich sonst einen Herzenswunsch erfüllen. In meiner
Familie sind alle Abstufungen von pecuniärer Lage
vertreten, vom Dr. v. M. ein Doppelvetter von mir an, Rechtsanwalt von Rothschild,
der eines der größten Einkommen von Wien hat, bis
zu besagtem Vetter. M. & dieser sind auch Vettern. Die fünf Francs hat Frau K. E. F.
als Zeitentschädigung, so traurig es ist, daß sie diese nicht mehr
nach Herzenslust verschwenden kann, bekommen; die
Einwechslung war nicht so gut als die des einen frc. Vielen Dank!
Und nun genug von dem!
Hermann´s Jettchen Gebert und Henriette Jacoby
sind unter r. + Band abgegangen. Ganz besonders
möchte ich noch auf das Gedicht im 2. Band aufmerk-
sam machen. Mein Mann hat diese Bücher nicht
mehr erlebt; ich bin überzeugt, er hätte sie freu=
digst anerkannt. Ich besitze ein Exemplar vom