Kienzl, Hermann: Brief an Wilhelm Kienzl. Wilmersdorf bei Berlin, 31.3.1927
Berlin=Wilmersdorf Berlinerstr 10
31. März 1927.
Lieber Gulian!
Ungefähr so lange, wie meine Geburtstagsgrüße,
mußten Deine lieben Zeilen von Mitte Februar auf Ant=
wort warten - aber es war wahrhaftig nicht
meine Absicht, Revanche zu üben! Wie soll ich
Dir's begreiflich machen, daß alle zärtlichen Gedanken
einen Brief nicht zustande brachten? Das Übermaß
von Beschäftigung erklärt es noch nicht; eher die
körperliche Mattigkeit, die die Feder nach der
Zwangsarbeit ruhen läßt; entscheidend war aber
wohl Verstimmung, Unfreudigkeit. Man scheut
sich, daran andere teilnehmen zu lassen. Genug,
wenn ich in den spärlichen Minuten des Zusammenlebens
mit den Hausgenossen labbere und im Gleichgewicht
zu sein scheine! (Daher wohl auch Flohs euphemistische
Notiz über mich.) Also nur kurz, um dann rasch
von anderem zu sprechen: die Hoffnung auf Besserung
habe ich aufgegeben. Ich kann so gut wie gar nicht
mehr gehen und sehe deutlich, wie sich die Kurve
neigt. - Du hast Deinen Jubel gesund überstanden.
Die herzlichen Ehren im heimatlichen Graz mögen Dir
wohl am Tiefsten zu Herzen gegangen sein - zumal
die Verleihung der Ehrenbürgerschaft im Rathaus,
unter dem Bilde des alten Ehrenbürgers, unseres Papa!