Kienzl, Hermann: Brief an Wilhelm und Helene Kienzl. Wilmersdorf bei Berlin, 13.8.1922
Hermann Kienzl
Berlin-Wilmersdorf
Berlinerstr. 10
14. August 1922. Sonntag.
Lieber Gulian! Liebe Henny!
Das ist nun schon mein dritter Berliner Tag. Giebt es
irgendwo hohe Berge und weißen Gletscher, Seen, Wälder,
blaue Bäche? Und ist das Haus in Lärchenreut
nicht bloß ein schöner Traum? Heute vor 14 Tagen
war unser „Familientag”! Ich will nicht empfindsam
werden; es genügt an Stelle aller wehmütigen
Betrachtungen das Schopenhauer=Wort: „Die Zeit und die
Vergänglichkeit aller Dinge in ihr und mittelst ihrer
ist bloß die Form, unter welcher dem Willen zum Leben,
der als Ding an sich unvergänglich ist, die Nichtigkeit
seines Strebens sich offenbart.” Dann setzt er aber
hinzu: „Die Zeit ist das, vermöge dessen Alles jeden
Augenblick unter unsern Händen zu nichts wird;
wodurch es allen wahren Wert verliert.” Und der
letzte Schluß scheint mir doch nur bedingt richtig. Solange
z. B. mein Gehirn nicht völlig erweicht ist, wird
es an den Ausseer Tagen einen Besitz haben. Für den
danke ich Euch noch einmal von ganzem Herzen!
Es ist nicht richtig, mein lieber Gulian, daß erst dieses
enge, trauliche Zusammensein mein „Brudertum” geweckt
oder auch nur gesteigert habe. Es ist bestimmt nicht
so. Vielmehr weiß ich, daß da eine Veränderung zum
Guten gar nicht eintreten konnte .... Aber nur ganz
selten im Leben haben wir uns so gründlich und behaglich
aussprechen können. Und alle liebevolle Güte Hennys
wie ein mathematisches Axiom längst verehrend,