Kienzl, Hermann: Brief an Wilhelm und Helene Kienzl. Wilmersdorf bei Berlin, 13.8.1922
hab ich nun das, was ich wußte, wiederum unmittelbar
voll erlebt und den ganzen Reiz Deiner farbigen und
durchgeistigten, opferfähigen und schwesterlichen Frauenseele,
liebe Henny, genossen! Mir ist gewiß viel ent=
gangen, indem ich erst nach Jahrzehnten den
Weg nach Aussee fand. Trotzdem soll mir das nicht
leid tun. Denn erst jetzt konnte sich der Nebel
von einem Dorado heben, das im unendlichen
Glanz liegt. Du bist ein glücklicher junger Mann,
alter Notenschreiber! Fast scheint mir, daß sogar
Deine Sorgen ohne Not zum inneren Gleichgewicht
gehören, - - wofern wir der höchst lehrreichen
Geschichte von Polykrates und dem Karpfen glauben
wollen.
Was gegenwärtig mich betrifft, so muß ich
allerdings meinem Leichtsinn den Rücken steifen,
um der anderen Devise: „Not ohne Sorgen” treu
bleiben zu können. (Man muß es sich immer
wieder sagen, daß man keine Sorgen habe, dann
glaubt man es vielleicht selbst ....) Die augen=
blickliche Lage ist nicht sehr ergötzlich. Alle künf=
tigen Honorare stecken noch tief in meinem
Federkiel, und die Zahlungen halten immer weniger
Schritt mit der Teuerung in Berlin, von der
man sich in Österreich keine Vorstellung macht.
Im Juli schwankte der Dollar zwischen 200 und 300
Mark, jetzt hat er 900 Mark überschritten!
Eine Semmel kostet 3 Mark = 210 Kronen. Pfui
Deibel, da gerat ich in's Ewig=Weibliche der Welt=
betrachtung. Trotzdem tut es mir ja doch nicht leid,