Friedländer, Alice: Brief an Elise und Helene Richter. 18.12.1918
Franz ist eigentlich ganz unverändert im Wesen, ebenso ver-
träumt und von seinen Ideen eingenommen wie früher, sodass ihm
die schauderhafte Wirklichkeit nicht so viel anhaben kann
wie Andern. Aber in der Berufsfrage hat er umgesattelt. Er
ist von der Naturwissenschaft abgekommen u. zur Germa-
nistik übergegangen. Ich wundere mich nicht sehr, eigentlich
war es immer meine Meinung, dass seine Hauptbega-
bung dort liegt. Er hat gerade heute begonnen, Vorlesungen
zu hören u. will die Zeit bis Semesterschluss (Ende Januar)
benützen, um sich einen festen Plan zu machen. Er ist natür-
lich geistig sehr ausgehungert u. wird trotz der Trauer
in Concerte, Vorträge u. wohl auch ins Theater gehen. Nach
1 1/4 Jahren kann ich ihm das nicht verdenken. Aber ich kann
nicht mit; ein Saal mit vielen Menschen ist eine grauenhafte
Vorstellung für mich. Max ist natürlich wieder ganz im Getriebe
u. findet es eigentlich unnatürlich, einen Abend ruhig zu
Hause zu bleiben. Um wie viel hat er die Jungen u. sich
durch diesen Mangel an Häuslichkeit gebracht! -
Ihr fragt, mit wem ich jetzt am meisten verkehre. Da sind
vor Allem Wolffensteins. Frau Wolffenstein, geb. Doller aus
Wien, kannte ich schon als Mädchen, sie steht mir innerlich
eigentlich am nächsten. Eine durch u. durch feine, kluge u. sehr
gebildete Frau. Ihr Mann, Geh. Baurat, schon 72 J. alt, mir
auch ein treuer, lieber Freund, 2 Töchter, von denen die älteste
27 J. alt mein besonderer Liebling ist. Eines der vollkommensten
Wesen, die ich kenne. Zu schade, dass sie so viel älter ist als Franz,