Kienzl, Hermann: Brief an Wilhelm Kienzl. Wilmersdorf bei Berlin, 31.3.1927
2.
Gestern bat mich die mir bis dahin persönlich un=
bekannte Witwe Busonis um meinen Besuch - d. h. sie
hatte sich zu mir bemühen wollen, mich um etwaige
Mitteilungen über Busonis Grazer Wunderkinderzeit
für eine große Monographie, die ein englischer
Musikhistoriker schreibt, zu befragen. Ich konnte
ihr nur sehr wenig aus eigener Erfahrung mit=
teilen, verwies sie aber auf Deine Lebenserinne=
rungen, die sie sich sofort kommen läßt, und
auf Dein Tagebuch. Es wird Dir ja nicht besonders
schwerfallen, in den Foliobänden der letzten Siebziger
Jahre alle Begegnungen mit Busoni aufzuschlagen und
vielleicht Details zu finden, die für den Biographen
und Psychologen von Wert sein könnten. Frau Busoni,
eine geistig klare Persönlichkeit, ist vollkommen
im Bilde über die schnöde Ausbeutung des Kindes
durch seinen väterlichen „Impressario”, sie schreibt
der mißhandelten Kindheit die vorzeitige Erschöpfung
von Busonis Lebenskraft zu. Ich stellte ihr natür=
lich vor, daß es undenkbar sei, Dir ein Exzerpt
aus den Tagebüchern zuzumuten, und riet ihr, Dich
bei Gelegenheit eines bevorstehenden Wiener Aufent=
haltes um einen Nachmittag zu bitten, damit Du
alle Stellen aufschlagen, ihr vorlesen könnest - und sie Beträcht=
liches notieren könne. Sie will Dir gleich schreiben.